Kein Mensch schlägt eine Zeitung auf, um Werbung zu lesen. Für Werbung gibt niemand Geld aus. Texte zu schreiben, die trotzdem Aufmerksamkeit wecken, ist daher eine besondere Kunst. Eine Kunst, die kein Schriftsteller, kein Lehrer und kein Pfarrer braucht – und die selbst unter Journalisten nur wenige wirklich beherrschen: nämlich jene, die Schlagzeilen für Boulevardblätter oder Magazine formulieren.
Wer diese Kunst lernen will, sollte sich zuerst fragen: Wie viel Zeit habe ich eigentlich?
Der Psychologe Kroeber-Riel hat gemessen: Eine DIN A4 Seite bekommt im Durchschnitt nur zwei Sekunden Aufmerksamkeit und davon geht mind. die Hälfte an Bilder. Bleibt also vielleicht eine Sekunde für Wörter.
Ein Wort wie „Zuständigkeitsverschiebung“ kann diese Sekunde schon fast füllen. Ein guter Grund, lange und komplizierte Wörter zu vermeiden. Das gilt erst recht, wenn sie 26 Buchstaben und vier Zischlaute enthalten.
Doch dieselbe Sekunde kann auch genügen, um den Leser neugierig zu machen.
Ein Text, der mit „Frau Wirtin bläst …“ beginnt, wird meist weitergelesen – und das vielleicht sogar mehrere Sekunden lang. „Frau Wirtin bläst auch gern Trompete in ihrer Freizeit.“ Das ist kein Werbetext – und doch einer. Er wirbt, Zeile für Zeile, um die Aufmerksamkeit des Lesers. Der Texter erreicht das, indem er mit einem reizvollen Anfang überrascht und diese Spannung fortführt.
Kroeber-Riels „eine Sekunde“ ist also kein festes Gesetz.
Wenn ein Text Energie hat, zieht er leicht viele weitere Sekunden Aufmerksamkeit nach sich. Außerdem: Durchschnittswerte sagen wenig aus. („Rockefeller und sein Chauffeur waren im Durchschnitt Milliardäre.“) Werbung will nie alle erreichen. Wenn sie nur bei 10 % der Leser ankommt, genau bei denen, die sich dafür interessieren, etwa Rheuma-Kranke für eine neue Salbe, ist das Ziel schon erreicht.
In Wahrheit sind es oft drei Sekunden. Wenn der Leser bereits ein gewisses Interesse („Involvement“) am Thema hat, reichen diese drei Sekunden locker aus – manchmal auch vier oder sechs. Sechs Sekunden sind viel: genug Platz für eine starke Aussage, die zum Weiterlesen animiert.
Wer sich auf drei Sekunden konzentriert, gewinnt doppelt:
Er erreicht auch die Leser mit geringem Interesse – und nutzt genau den Zeitraum, den wir mit einem Blick erfassen können. Diese drei Sekunden sind unsere „lebendige Gegenwart“.
Kurz gesagt:
Es lohnt sich, um jede Silbe zu ringen. Texte sollen nicht durch ihre Länge abschrecken, sondern durch Klarheit und Energie überzeugen – und das in einer Schriftgröße, die man ohne Lupe lesen kann.
Ihr Klaus Guckler